Marie von Olfers


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Marie von Olfers
arie von Olfers (Pseudonym M(aria) Werner, Werner Maria; * 27. Oktober 1826 in Berlin; † 8. Januar 1924 ebenda) war eine deutsche Schriftstellerin, Illustratorin und Salonnière.







Si-Ling.


Eine chinesische Legende.

Diese Ballade spielt in einem alten chinesischen Kaiserreich. Mit Si-Ling ist wahrscheinlich die erste Frau Leizu von Xiling (= Si-Ling) des chinesischen Kaisers Huangdi (= Hoang-Ti) gemeint. Huangdi oder Huáng Dì, fälschlich Hoang-ti, auch bekannt als Der Gelbe Anführer oder Der Gelbe Kaiser, ist eine Gottheit in der chinesischen Religion, einer der legendären chinesischen Herrscher und Kulturhelden, die zu den mythohistorischen Drei Herrschern und Fünf Kaisern und den kosmologischen Fünf Formen der Höchsten Gottheit gehören. Von jesuitischen Missionaren auf der Grundlage chinesischer Chroniken berechnet und später von den Befürwortern eines universellen Kalenders, der mit dem Gelben Kaiser beginnt, akzeptiert, sind Huangdis traditionelle Regierungsdaten 2697–2597 oder 2698–2598 v. Chr. (Quelle: Wikipedia).

Die folgende Ballade wurde unter dem Pseudonym
Werner Maria im Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, 2. Band 1868 veröffentlicht.

Si-Ling.

Vor einem Lilienstrauch in Abendgluthen
Steht China’s Kaiserin, Si-Ling, und träumt.
Die schwarzen Flechten glänzen lichtumsäumt,
Erweckt aus ihrer Nacht durch Strahlenfluthen,
Die scherzend tanzten auf den dunklen Tiefen
Und alle Farbengeister, die da schliefen,
Zu lieblicher Erlösung riefen;

Und rings im Kreise, reich an Blüthenglocken
Des Landes Blumen groß und düfteschwer,
Der Holden holdestes Vasallenheer,
Die schönste Kaiserkrone ihrer Locken:
Denn als die Herrlichste von ihnen allen
Steht dort Si-Ling, der Völker Wohlgefallen.

Hell schimmernd zieht sich hin und wieder, wiegend,
Von Schmetterlingen eine bunte Schaar,
Bald schwirrend durch die Lüfte, Paar um Paar,
Bald blüthengleich auf Blüthendolden liegend.

Doch welche Pracht, die so den Blick gehalten,
Den holden Blick, der träumend tiefgesenkt
An jener weißen Lilienblume hängt,
Wie festgebannt durch zaubrische Gewalten?
Kein Farbenglanz, der dort sie locken konnte.
Im reinen Kelch, der kaum zu blühn begonnte
Ein blasser Schmetterling, der scheu sich sonnte.

Von ihrer Schulter folgt in Liebesneide
Ein zahmer Papagei dem Blicke nach;
Sein zornig funkelnd Auge sprach:
„Es irrt, wer glaubt, daß ich das länger leide.
Schon zweimal küßt’ ich ihr umsonst die Wange,
Jetzt wird es Zeit, daß ich den Sünder fange.“

Und gleich dem Unheil fährt er plötzlich nieder,
Die Federn blitzten hell im Sonnenlicht.
Er faßt am Bein den armen Wicht –
Der flattert ängstlich hin und wieder –
Doch strafend wehrt dem trotzigen Gesellen
Der Herrin sanfte, mitleidvolle Hand;
Das arme Thierchen ruht, dem Tod’ entwandt,
Und hebt beglückt die Flügelchen, die hellen,
Doch ohne sie zum freien Flug zu wenden.
Es bleibt getrost bei jenen güt’gen Händen,
Die schweres Leiden durften liebreich enden.

Voll Sorgfalt trägt an ihren Fingerspitzen
Si-Ling den kleinen Schützling zum Palast.
Sie setzt ihn selber auf der Blüthen Ast;
Wie viel der Diener auch im Schlosse sitzen,
Die krummen Rückens nur der Winke warten:
Sie trägt ihn selbst in ihren Zimmergarten.

Aufmerkend täglich, wo Gefahren drohten,
Sah sie ihm zu, wie er sich zierlich bog,
Die Flügel regte, Blüthenhonig sog,
Den süße Blumen ihm im Kelche boten.

Nicht lange darf sie sich des Lieblings freuen:
Denn eines Tags beim ersten Morgenroth
Da fand sie ihren kleinen Liebling todt,
Und neben ihm, das Leben zu erneuen,
Wie Perlen Eierchen im Blättergrunde –
Von ihm gelegt in seiner Sterbestunde –
So steht das Leben mit dem Tod im Bunde.

Si-Ling, die mitleidsvolle, nimmt die Blätter
Und legt sie hin, wo warm der Sonnenschein
Den armen Kleinen mag recht freundlich sein,
Wo rings umher im klaren Frühlingswetter
Sich junge Knospen lebensfroh entfalten,
Und Alles drängt, sich keimend zu gestalten.

Bald regen sich im Ei die kleinen Leben
Und schwache Würmchen gucken scheu hervor,
Sie klimmen sorgsam hoch am Zweig empor,
Der ihnen täglich muß die Nahrung geben.

Da lächeln froh die träumerischen Augen
Von Chinas schöner Kaiserin Si-Ling.
Kein armes Würmchen achtet sie gering,
Und scheint es wenig oder nichts zu taugen,
Sie weiß es liebevoll heraus zu pflegen,
Als wär, wer weiß wie viel, an ihm gelegen,
Es wächst an Werth durch ihren treuen Segen.

Sie liebt die armen schönheitlosen Dinger
Und pflegt sie selbst mit eigner, hoher Hand.
Des Hofes Damen stehen abgewandt
In Angst um ihre zarten Rosenfinger;
Denn nur das Mitleid reinster Herzen
Kann äußre Mißgestalt so leicht verschmerzen.

Geduldig wartet sie der Frühlingstage,
An welchen diese erdgeborne Schaar,
Die jetzt so niedrig unätherisch war,
Ein lichtes Flügelpaar zum Himmel trage.

Der Kaiser, ihr Gemahl, der Sohn der Sonne,
Ein ernster Mann von hohem, weisem Sinn,
Besuchte oft die holde Kaiserin;
Er hielt sie hoch als seines Lebens Wonne,
Und höher noch, als Seele seiner Seele,
Die Sicherstes aus reinstem Triebe wähle
Und nie des rechten Rathes fehle.

So kam er einst und klagte früh am Morgen,
Wie schwer es sei in China’s großer Stadt,
Die allerwärts schon Ueberfülle hat,
Das Volk mit Arbeitsquellen zu versorgen.
Wie goldne Minen lägen sie vergraben;
Wer fände Wege zu den Wundergaben?

Sonst hatten Beide ernstlich Rath’s gepflogen,
Und manchesmal im lieblichen Verein
Gestillt der Armuth bittres Hungerschrei’n,
Und manches Herz aus Angst und Noth gezogen.
Doch seit Si-Ling den Schmetterling besessen,
Erscheint sie Hoang-Ti wie umgewandt.
Ist das der hohe Sinn, der ihn verstand,
Der jetzt bei Thieren Menschen kann vergessen?
Kaum lauscht sie träumend seinem weisen Worte,
Zerstreut und kalt, als wär sie andrer Orte;
Verschlossen scheint für ihn der Seele Pforte.

Und kindisch schilt der Kaiser alle Frauen,
Verachtet ihren Geist und ihren Rath;
Nur Männerweisheit nütze Volk und Staat,
S i e  seien nur zum Spielen, zum Beschauen!
Und eifernd hebt der Zorn die wilden Wellen,
Und droht sein Herz mit Macht zu überschwellen.

Sie ahnt es nicht, sie lebt in fernen Welten:
Ein Lächeln spielt im schönen Angesicht,
Ein reizendes, das fragend zu Euch spricht:
Wie kannst Du Deines Lieblings Freude schelten?

Gestreckt auf ihren weichen Purpurkissen,
Vor ihr der Thee, der duft’ge Morgentrank,
Das Wasser zischt und murmelt seinen Sang,
Allein sie scheint auch davon nichts zu wissen.
Es fesselt sie ein holdes Wundermärchen:
Von ihren Raupen hat sich just ein Pärchen
Ein Haus gesponnen ganz von Silberhärchen.

Da faßte zornig China’s erster Kaiser
Das silberne Gespinnst mit edlem Groll,
Und warf, daß heiß das Wasser überquoll,
Das Kunstgewebe, Maulbeerblatt und Reiser,
In jenen Kessel, zierlich blank und golden,
Voll Wasser für den Frühstückstrunk der Holden.

Sie sah ihn an – befremdet, nah dem Weinen
Und faßt es kaum, daß Hoang-Ti sie schilt.
Er war doch sonst so weise, fromm und mild,
Und stumm befreit sie ihre armen Kleinen.

Gesenkten Hauptes stand sie da, in Händen
Den Maulbeerzweig von Wassertropfen schwer.
Sie zieht die Fäden spielend hin und her,
Verknüpft zu Zaubernetzen Silberenden,
Die schimmernd vom Gespinnste niederschweben,
Sich leicht verschlingend ineinander weben,
Als sollt’ es zarte Feenkleider geben.

Voll Staunen sah es Hoang-Ti, der Kluge;
Und wie dem Blinden, dem das Tageslicht
Zum erstenmal die tiefe Nacht durchbricht,
So ward ihm sonnenklar mit einem Zuge:
In jenen Fäden, zart und fein gesponnen,
Sei Arbeit für sein kunstreich Volk gewonnen.
Er sah im Geist die schillernden Gewänder
Der Kunst, die, wie aus kleinem Keim der Baum,
Emporwuchs, eine Pflanze seiner Länder, –
Weissagend schaut den  S e i d e n b a u  sein Traum.

In seinem Glanze leuchten die Gemächer,
Der Väter Thron, der reichgeschmückte Saal;
Es ist, als hinge nur sein junger Strahl
An schöner Frauen leichtbewegtem Fächer,
An Putz und Tand – und doch – der goldne Schimmer
Ist Trost der Hütte, so wie Prunk dem Zimmer;
In ihm verbunden scheinen sie auf immer.

Aus armer Hand empfangen Pracht die Reichen,
Der Reiche giebt dem Armen Lohn zurück.
Wer dankt dem Andern hier das Glück?
Für Beide wird der Seidenfaden Zeichen,
Daß Hoch und Niedrig wie Verwandte stehen;
Sie müssen Hand in Hand geschlossen gehen.

Und freudig sagt er’s, ruft die Mandarinen,
Er nimmt Si-Ling’s geliebte weiße Hand,
Und spricht: Dem Lande hat sie Gottes Huld gesandt;
In ihr ist Rettung aus der Noth erschienen.
Denn Buddha lächelt stolzer Weisheit Reden
Und giebt die Kraft den schwachen Händen hin,
Die, treuer liebevollem Göttersinn,
Erbarmend Hülfe leisten einem Jeden.
Das Mitleid fand, wo unsre Schätze lagen,
Und kleine That wird wachsend Früchte tragen
Weit über diese Zeit, von der wir sagen.

Also geschah’s; und Seide ward gesponnen,
Weil Güte mehr entdeckt, als Klugheit je ersonnen.

Werner Maria.

Quelle: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, Band 2, 1868, Seiten 154-158, Herausgeber: Ernst Dohm und Julius Rodenberg; Verlag von A. H. Payne, Leipzig