Emmy von Dincklage


Amalie Ehrengarte Sophie Wilhelmine (Emmy) von Dincklage-Campe (* 13. März 1825 auf Gut Campe, Gemeinde Kluse, Emsland; † 28. Juni 1891 in Berlin), evangelisch-lutherisch, war eine deutsche Romanschriftstellerin.

Bereits zu ihren Lebzeiten verfasste der deutsch-schweizerischer Literaturhistoriker, Sinologe, Übersetzer und Bibliothekar Heinrich Kurz (* 28. April 1805 in Paris; † 24. Februar 1873 in Aarau) eine Biografie über Emmy von Dincklage, die im Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft (1873, Band 1, Seiten 727-732, Herausgeber: Julius Rodenberg, Verlag von A. H. Payne, Leipzig) veröffentlicht wurde. Die folgende Transkription "Fraktur nach Antiqua" erfolgte im Verlag stimm-los. Originalrechtschreibung, Satzaufbau, Interpunktion und Grammatik wurden beibehalten.

Dincklage Emmy von

Emmy von Dincklage, verfasst von Heinrich Kurz

„Dincklage oder Dinckelage, ein Schloß und Flecken oder Dorf im Stift Münster an einem kleinen Bach, welcher in die Hast ausfließt, gelegen und zu der ehemaligen Herrschaft Vecht gehörig. Es soll vor diesem eine ganze Herrschaft gewesen sein und eigene Herren dieses Namens gehabt haben. So stand auch vor diesem ein festes Schloß daselbst, welches im vierzehnten Seculo der Bischof zu Münster, Florentinus von Wewelinckhove, der Bischof von Osnabrück, Melchior, geborener Herzog von Braunschweig, und Otto, Graf von Tecklenburg, über fünfzehn Jahre lang belagert, aber endlich erobert und geschleift haben."

So berichtet das alte „Universallexicon“ von Zedler, indem es sich auf eine Reihe von geschichtlichen Werken beruft, mit deren Anführung wir unsere Leser verschonen. Ob sich noch Ruinen des alten Schlosses vorfinden, wissen wir nicht, glauben aber es bezweifeln zu müssen, denn was die Bischöfe zerstörten, das zerstörten sie auch gründlich. Dagegen scheinen sie die Eigenthümer der Burg nicht in ihre Gewalt bekommen zu haben, denn sonst würden sie dieselben wol auch vertilgt haben, wie einst Josua die Bewohner von Jericho. Das Geschlecht blüht aber noch, und aus diesem stammt die Dichterin, mit welcher wir unsere Leser näher bekannt machen wollen.

Die Dincklage erscheinen bald nach den Kreuzzügen mit den Grafen von Ravensberg und denen von Tecklenburg, bei welchen sie auch zu Lehen gingen. Nach der Zerstörung der Burg theilten sie sich in zwei Stämme, die Dincklage-Campe und die Dincklage-Schulenburg. Die Linie Dincklage-Campe stammt von einem Ahnherrn der Dichterin, der eine Erbtochter des Hauses Campe heirathete und ihm das Rittergut dieses Namens zubrachte. Das Schloß, oder wie man es dort nach altsächsischem Herkommen nennt, das „Haus" Campe, das ungefähr vor dreihundert Jahren erbaut wurde, ist zwar mit Ringgräben umgeben, besteht jedoch nur aus Fachwerk; die Zeiten des streitbaren Adels waren damals schon vorbei, und man fühlte sich hinter den Schloßgräben gegen mögliche Ueberfälle von Landstreichern schon sicher genug. Vor der Brücke, die in das Schloß führt, steht eine alte wunderschöne, ganz hohle Ulme, die sieben Fuß im Umfang hat.

In diesem „Haus“, eine grüne Oase mitten in Sand, Moor und Haide, wurde Amalie Ehrengart Sophie Wilhelmine von Dincklage am 18. März 1825 geboren. Sie ist das älteste Kind des Freiherrn Hermann von Dincklage-Campe und seiner Gattin Julia, geborenen Baronesse von Stoltzenberg. Sie wurde bald der Liebling ihrer Großeltern, namentlich ihres über achtzig Jahre alten Großvaters, der einst mit den hessischen Truppen in Amerika während des Befreiungskrieges gekämpft hatte. Doch verlor sie ihn schon in ihrem dritten Jahre; ihre Großmutter war etwas früher gestorben. Emmy — so nennt sie sich selbst — wurde von ihren Eltern nach strengen Grundsätzen erzogen, doch entwickelte sie zugleich eine seltene Charakterkraft. Obgleich sie ihre Eltern leidenschaftlich liebte und verehrte, fügte sie sich doch nicht immer ihren strengen Anordnungen. Als man sie einst zwingen wollte, wegen eines Vergehens nach bestandener Strafe um Vergebung zu bitten, mußte man die Strafe noch sechs Mal wiederholen, ehe sie nachgab. Eines Tages sollte sie in den Keller eingesperrt werden, als sie aber drohte, die Hahnen an allen Bierfässern zu öffnen und das Bier in den Keller laufen zu lassen, ließ man es bei einer ernsten Mahnung bewenden, weil man überzeugt war, daß sie ihre Drohung erfüllen würde. So machte sie ein anderes Mal einen kühnen Fluchtversuch. Sehr häufig wurde sie bestraft, weil sie sich aus dem Hause schlich, um sich beim Viehhüten zu betheiligen, oder um mit dem Kutscher die Pferde in die Schwemme zu reiten.

Das Lernen wollte ihr nicht sehr behagen; erst als sie dem Schulzwang entwachsen war und sich selbstständig beschäftigen konnte und durfte, erwachte die Neigung zum Studium. Eben so erging es ihr mit den häuslichen Beschäftigungen. Lange schien es, als ob sie niemals mit der edlen Kochkunst und den weiblichen Handarbeiten vertraut werden würde, bis plötzlich auch hierfür ihre Neigung erwachte und sie nach beiden Seiten hin zur Meisterschaft gelangte.

Das im Ganzen einförmige Leben im Elternhause, das von größeren Ortschaften entfernt liegt, erhielt dadurch einige Abwechslung, daß man mit den Bauern des Dorfes verkehrte. Im Emsland ist nämlich das Verhältniß des Grundherrn zu den Dorfbewohnern noch ganz patriarchalisch; der Grundherr betrachtet sich als Vater seiner „Unterthanen" und hält es daher auch für seine Pflicht, für sie zu sorgen, wenn sie in Noth gerathen. Emmy's Mutter nahm sie mit sich, wenn sie kranke oder arme Bauern besuchte, und als sie und ihre Schwester herangewachsen waren, wurde es ihnen allein überlassen, ihnen Rath, Trost und Geschenke zu bringen. So wurde sie mit dem Leben der Dorfbewohner vertraut und sie lernte dieses kernhafte, nach Außen schweigsame, im Innern tief empfindende Volk schätzen und lieben, sich selbst als ein Kind dieses tüchtigen Volksstammes zu fühlen.

Als die jüngeren Geschwister der Dichterin heranwuchsen, zogen ihre Eltern nach Bückeburg, der kleinen Residenz des Fürstenthums Schaumburg-Lippe, die für Unterricht und Erziehung bessere Gelegenheit darbot, als das einsame Campe. Für Emmy wurde der dortige Aufenthalt einflußreich, nicht nur weil sie in die höheren Gesellschaftskreise eingeführt wurde, sondern weil sie auch in nähere Beziehung zu bedeutenden Männern, namentlich zu dem als Dichter bekannten Victor von Strauß trat. Das nahe Minden bot ihr Gelegenheit zu anderen anregenden Bekanntschaften; sie lernte die Dichterin Elise von Hohenhausen und deren ebenfalls als Schriftstellerin bekannte Tochter Elise Rüdiger-Hohenhausen kennen, ferner die originelle Mathilde Marcard, welche Veranlassung wurde, daß sie sich in einer prosaischen Erzählung versuchte, nachdem sie vorher schon mehrere Gedichte in dem von Gruppe herausgegebenen Musenalmanach veröffentlicht hatte (1854 u. 1855).

Vorher schon hatte ihre Mutter sie nach Wiesbaden mitgenommen, wo ihr eine ganz neue Welt entgegentrat. Diese Reise ward in so fern von großem Einfluß auf sie, als durch dieselbe eine unüberwindliche Reiselust in ihr erweckt wurde, die immer mehr zunahm, je mehr fremde Länder sie kennen lernte. Auch in Wiesbaden machte sie interessante Bekanntschaften, darunter den Dichter Wilhelm Smets und den Geschichtschreiber der Freiheitskriege, Heinrich Beitzke, der mit seiner Frau das Heilbad besuchte. Seine eben so klaren als großartigen Anschauungen machten mächtigen Eindruck auf sie, und auch er gewann das strebende Mädchen lieb. Er besuchte die Dame in Campe und lud sie ein, ihm einen Gegenbesuch zu machen, welcher Einladung sie im folgenden Jahre Folge leistete. Beitzke wohnte damals in Colberg, wo sie zum ersten Male den großartigen Anblick des Meeres genoß.

Von nun an war Emmy von Dincklage beinahe immer auf Reisen oder auf längeren Besuchen in befreundeten Familien. So hielt sie sich längere Zeit in Oberschlesien bei einem reichen Gutsbesitzer auf, in dessen Familie sie glückliche Tage verbrachte. Dort lernte sie erst die Heiterkeit des Lebens kennen, der sie sich mit voller Seele hingab. Sie dichtete kleine Aufführungen zu Familienfesten, die so glücklich, gelangen, daß man den Gedanken faßte und auch ausführte, ein kleines Theater zu bauen. Der heitern Unterhaltung gesellte sich aber auch ernstes Streben, das durch geistreiche Freunde der Familie, die häufig zum Besuch, kamen, lebhaft gefördert wurde, so daß sie dem dortigen Aufenthalte eine erfreuliche Entwickelung ihres geistigen Selbstbewußtseins zu verdanken hatte. Nicht weniger einflußreich und glücklich war ein Sommeraufenthalt in Ungarn, wohin sie mit ihren Freunden gereist war, und der Aufenthalt in Dresden, wo sie mit denselben den Winter verbrachte. Sie fand dort vielseitige Anregung für ihre Leistungen im Gebiete der Novelle, so von Seiten der Baronin von Goethe, der Schwiegertochter des Dichters, und der Frau Baronin von Zöllner, deren Romane, die sie unter dem Namen Caroline von Göhren herausgab, früher bei der Lesewelt großen Anklang gefunden hatten. In Dresden lernte Emmy von Dincklage Gutzkow, die bekannte Novellistin Claire von Glümer, Gustav Kühne, den Geheimen Rath Carus, Feodor Wehl, Schleiden, den genialen Otto Ludwig u. A. m. kennen. Später trat sie mit Julius Rodenberg, Paul Heyse und ihrem Landsmanne Levin Schücking in nähere Verbindung, so daß ihr eine Reihe der hervorragendsten Schriftsteller und Dichter befreundet sind.

Im Jahre 1858 reiste Fräulein von Dincklage nach Italien, wo Natur und Kunst ihr manchen reichen Genuß darbot, der bei ihrer lebhaften Empfänglichkeit für alles Schöne nachhaltig auf sie wirkte.

Das Jahr 1866 brachte ihr zugleich Freudiges und Trauriges. Am Schlachttage von Langensalza wurde sie zur Stiftsdame im adeligen freiweltlichen Stifte zu Borstel unweit Osnabrück ernannt; die Einverleibung Hannovers in Preußen war für sie ein harter Schlag, da sie bei ihren conservativen Gesinnungen leidenschaftlich an der Selbstständigkeit und der Eigenthümlichkeit ihrer Heimat hing. Von da an beschäftigte sie sich hauptsächlich mit schriftstellerischen Arbeiten, über welche wir sogleich berichten werden.

Wir kennen Fräulein von Dincklage nicht persönlich; nach dem Portrait zu urtheilen, das einer ihrer Schriften beigegeben ist, ist ihr Gesicht nicht, was man schön nennen kann, es macht aber einen überaus angenehmen Eindruck, den man oft bei regelmäßigen Schönheiten vermißt. Die hohe Stirn, die lebhaften Augen, der lieblich geformte Mund vereinigen sich harmonisch, um der ganzen Erscheinung den Charakter des Geistreichen und zugleich Anmuthigen und heiterer Gutmüthigkeit, aber auch einer ungesuchten Natürlichkeit zu geben, was sowol durch ihre Schriften als durch ihr ganzes Auftreten bestätigt wird. Denn obgleich vielfältig in raffinirt vornehmen Kreisen sich bewegend, erscheint sie doch immer natürlich, kernhaft, als die echte Tochter ihres Heimatlandes, wie sie denn bei aller Gutmüthigkeit, wenn sie herausgefordert wird, unerschrocken und unverblümt die Wahrheit sagt.

Wie schon berichtet, zeigte Emmy von Dincklage schon früh große Schaffenslust; sie dichtete viel und betrieb ihre practischen Versuche je länger, je mehr mit Ernst. Sie machte sich mit den Gesetzen der Metrik bekannt und studirte die deutschen Dichter mit Aufmerksamkeit und Begeisterung. Unter diesen waren Schiller und Uhland ihre Lieblinge, doch erkannte sie mit der Zeit, daß ihr Talent sie auf ein anderes Gebiet wies, in welchem sie ihre Beobachtungen und Erfahrungen poetisch verwerthen konnte. Sie hatte im Jahre 1857 zu ihrer eigenen Unterhaltung eine Novelle „Das alte Liebespaar“ geschrieben, ein Verwandter schickte sie ohne ihr Wissen in das „Morgenblatt", in welchem sie auch gedruckt erschien. So günstig dieser erste Versuch auch ausgefallen war, so verging doch eine lange Reihe von Jahren, ehe sie sich an großen Arbeiten versuchte. Die Reisen, die sie unterdessen machte, die mit denselben verbundene Unruhe, konnten der Schriftstellerei nicht förderlich sein, die immerhin Sammlung und behagliche Ruhe fordert. So erschien ihr erster größerer Roman „Hochgeboren“ erst im Jahr 1868; ihm folgten im Jahre 1871 der zweibändige Roman „Tolle Geschichten“ und die „Neuen Novellen“ in zwei Bänden; im Jahre 1872 der Roman „Sara", ebenfalls in zwei Bänden, zuletzt in den Jahren 1872 und 1873 die „Geschichten aus dem Emslande". In diesen kommt ihr eigenthümliches Talent am Entschiedensten zur Erscheinung, weshalb wir auch diese, in denen sich gegen die ersten Romane ein bedeutender Fortschritt, namentlich in formeller Behandlung, offenbart, vorzüglich in's Auge fassen.

Die Localität, in welcher sich die „Geschichten aus dem Emslande“ bewegen, so wie die „Neuen Novellen“, ist das ehemalige Bisthum Münster, später Herzogthum Arenberg-Meppen, von diesem Orte aus bis zur Colonie, jetzt Stadt Papenburg, gegen die ostfriesische Grenze sich erstreckend. Das Land ist eine ungeheure Ebene, die von der Ems bewässert wird und mit Haiden und Mooren abwechselt, so daß die bewohnten Gegenden in den großen Mooren wie Inseln erscheinen. Die Einwohner dieses Landstriches sind altsächsischer und friesischer Abstammung; sie haben in Sitten und Gebräuchen noch Vieles von ihren Vorfahren behalten. Auch die Sprache hat noch altgermanisches Gepräge; sie ist reich an kräftigen, markigen Ausdrücken, die sich seit den ältesten Zeiten lebendig im Munde des Volkes erhalten haben. Fräulein von Dincklage spricht sie gern und gewandt, auch hat sie einige Gedichte in der Mundart, die von Firmenich, in „Germaniens Völkerstimmen“ mitgetheilt wurden. Die gründliche Kenntniß ihrer heimatlichen Mundart erwarb ihr die Ernennung zum Mitgliede des Plattdeutschen Vereins „Schurr-Murr" in Dresden, in welchem sie den Triumph erlebte, daß einige ihrer Kernworte nicht ohne Erklärung verstanden wurden. So sehr sie ihre Muttersprache liebt, so ließ sie sich doch nicht verführen — wir wollen dies sogleich hier erwähnen — die Sprache ihrer Erzählungen durch Einmischung undeutlicher Ausdrücke zu verunstalten, was andere Dichter von Dorfgeschichten oft in so überreichem Maße thun. Sie hat dadurch ein richtiges und feines Formgefühl beurkundet, und zugleich den Beweis geliefert, daß das Hochdeutsche, wenn es mit Sinn und Kunst behandelt wird, vollkommen hinreicht, um auch solche Verhältnisse zur Anschauung zu bringen, die einem besondern Gebiete und Volksstamme eigenthümlich sind.

Die Dichterin giebt in den „Geschichten aus dem Emslande“ keine eigentlichen Beschreibungen der Landschaft, in welcher ihre Personen leben und handeln, so wenig als sie das Aeußere der Personen selbst schildert; aber sie weiß durch die Reden und Handlungen Land und Personen so glücklich zu charakterisiren, daß wir ein vollständiges Bild des einen wie der andern erhalten. Die Personen tragen sämmtlich das Gepräge ihres norddeutschen Stammes, aber innerhalb dieses Gepräges sind sie auf das Lebendigste individualisirt. Man würde zwar die verschiedenen Oertlichkeiten, die in den „Geschichten" vorkommen, schwerlich in den genauesten Specialkarten finden, und in Dörfern oder Höfen keine Personen treffen, die zu denen in den „Geschichten" passen, aber es sind doch Gestalten, wie sie in jedem Dorf und jedem Hof angetroffen werden, so wahr und natürlich sind sie.

Wenn wir sagten, daß die Zeichnung der Personen auf der vollkommensten Wahrheit beruht, so daß sie uns allüberall im Emslande begegnen, so könnten wir dagegen mit eben so viel Recht behaupten, daß im ganzen Lande keine solchen Menschen zu finden sind, wie die Dichterin sie schildert. Denn sie hat das innerste Wesen der Menschen, wie es nie zur äußern Erscheinung gelangt, mit tiefem Blick ergriffen und dasselbe poetisch gestaltet. Und nur der wahre Dichter vermag dieses, wie nur der echte Künstler in sein Portrait einerseits die vollkommenste Aehnlichkeit zu legen, aber zugleich das geheimste Seelenleben, wie es in der Wirklichkeit nur in seltenen Weihestunden erblickt wird, zur Erscheinung bringen kann.

Das Emsland ist nicht blos von Bauern bewohnt; wie wir aus der Lebensgeschichte der Dichterin gesehen haben und aus den „Geschichten" ersehen, ist auch der Adel vertreten. Auch diesen führt die Dichterin mit großer Kunst vor. Da sie selbst diesen Kreisen angehört, oder vielmehr ob sie gleich ein Glied desselben ist, schildert sie sein Thun und Treiben mit vollster Objectivität in seinen verschiedenen Erscheinungen. Mit großer Vorliebe weilt sie bei demjenigen Theil des Adels, der bei entschieden feiner Bildung doch dem Leben des Volkes nahe steht, dessen Leiden und Freuden und selbst dessen Arbeiten theilt, und lebhaft an die Zeiten erinnert, wo die Burgfrauen und die züchtigen Jungfrauen mit dem Gesinde um die Wette spannen und nähten. Diese Verhältnisse werden uns vornehmlich in der Erzählung „Die zehnte Muse“ zur Anschauung gebracht, die überhaupt zu den gelungensten Stücken der Sammlung gehört. Die Darstellung in den Geschichten ist sehr mannigfaltig und die Dichterin bewegt sich eben so gewandt, wenn sie ernste Stoffe behandelt, als wenn sie komische Scenen vorführt, oder in das Reich des Phantastischen greift. Ueberall entsprechen Darstellung und Sprache dem geschilderten Gegenstande. Das Volk, mit dessen Leben uns die Dichterin bekannt macht, ist, wie die Norddeutschen überhaupt, ruhig und abgemessen, in Leiden geduldig, im Glück sich nicht überhebend, aber den menschlichen Leidenschaften nicht weniger unterthan als die heißblütigeren Südländer, und wenn sie einmal zum Ausbruch kommen, nachdem sie lange in der Brust zurückgehalten worden, erscheinen sie vielleicht gewaltiger als bei diesen.

Die Dichterin ist auch in der Darstellung solcher Zustände überaus glücklich, wie sie in der Erzählung „Die quade Grethe“ bewiesen. Wie sie in manchen anderen Geschichten Zeugniß gegeben hat, daß sie die schönen und edlen Seiten des weiblichen Herzens kennt, die Mutterliebe, die Aufopferungsfähigkeit, die Milde der Gesinnung, so hat sie in der „quaden Grethe“ bewiesen, daß ihr auch das dämonische Element im weiblichen Herzen zum tiefen Verständniß geworden ist.

Wer die „Geschichten aus den Emsland“ liest, ohne zu wissen, wer sie geschrieben hat, wird nicht leicht auf den Gedanken kommen, daß sie von einer Frau verfaßt sind, denn es tritt das Weib nirgends hervor, wie denn auch einige Recensenten ihre früheren Schriften unbedenklich angenommen haben, daß sie von einem Manne herrührten. Aber es würde doch das schärfste Auge nirgends Unweibliches entdecken; Nichts, was das Zartgefühl der feinsinnigsten Frau verletzen könnte. Und eben in diesem Charakterzug ihrer Schriften erkennen wir das echte Talent, das unbewußt und ungesucht das richtige Maß der Darstellung findet.

Wir können schließlich die Bemerkung nicht unterlassen, daß Fräulein von Dincklage auch im Auslande Anerkennung gefunden hat. Ihr erster Roman „Hochgeboren" wurde 1872 vom Grafen Géza Teleky und Feranus Szépfaludy unter dem Titel: „Egy rút hölzy törtenéte" (Geschichte eines häßlichen Mädchens) in's Ungarische übersetzt; eben so erschienen mehrere ihrer Novellen in ungarischer Uebersetzung, auch in Amerika wurden einige in's Englische übersetzt, und eine Zeitung von Cincinnati brachte eine Biographie der Dichterin, in welcher ihre Werke mit großer Anerkennung besprochen wurden.